Quo vadis Europa? Dass die europäischen Staaten den demokratischen Weg in Zukunft weiter gemeinsam beschreiten, scheint aktuell gefährdeter denn je. Debatten rund um Brexit, wachsenden Populismus und die europaweite Migrationspolitik lassen erahnen, dass Demokratie und europäische Einheit nicht unerschütterlich sind. Im Vorfeld der Europa-Wahl 2019 lud die ZEIT-Stiftung am 26. und 27. April deshalb zum zweiten EuropaCamp in die Internationale Kulturfabrik Kampnagel ein. Das Ziel: Die Demokratie und ihre Vorkämpfer zu stärken.
Mit dem EuropaCamp soll der gesellschaftliche Dialog gefördert werden. Dafür erwies sich die Kulturfabrik auch im zweiten Jahr als ideale Plattform. Die vielfältigen Räumlichkeiten ermöglichten die Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen Europas wie journalistische Verantwortung im digitalen Zeitalter, Umgang mit EU-Gegnern oder das Verhältnis von Kunst zur Demokratie in verschiedenen Formaten. Explizit richtete sich das EuropaCamp auch an Kinder und Jugendliche. Gut besuchte interaktive Workshops regten zur Reflexion und Diskussion unter ihnen an. So schlüpften die Kinder beispielsweise in die Rolle eines EU-Staatsoberhaupts und beschlossen nationale Gesetze und Richtlinien – per Smartphone.
Schülerreporter Jennik interviewt Spitzenkandidat Yanis Varoufakis (Bewegung Demokratie in Europa 2025) zu seinen Vorstellungen eines künftigen Europa. Foto: David Ausserhofer
Das thematische Angebot des zweiten EuropaCamps spiegelte die Vielfalt Europas wider und zog Akteurinnen und Akteure aus Kunst, Kultur, Journalismus und Politik an. Trotz verschiedener Meinungen einte die Besucher und Speaker eines: der Wille, auch in Zukunft für ein gemeinsames und demokratisches Europa einzustehen. In angeregten Diskussionen wurden verschiedene Möglichkeiten verhandelt, wie künftige Probleme Europas gemeinsam bewältigt werden können.
Bereits im Vorfeld hatte die ZEIT-Stiftung eine repräsentative forsa-Umfrage in Auftrag gegeben. Das Ergebnis stimmte nachdenklich: 83 Prozent der Hamburgerinnen und Hamburger sahen die Demokratie in Europa in Gefahr. 30 Prozent der 500 online Befragten waren gar der Ansicht, die europäische Wertegemeinschaft existiere nicht mehr. Ein sehr starkes bis starkes Interesse an der bevorstehenden Europa-Wahl hatten nur rund die Hälfte der Befragten.
Grund genug für Michael Göring, Vorstandsvorsitzender der ZEIT-Stiftung, in seiner Eröffnungsrede alle Demokratinnen und Demokraten aufzufordern, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Amelie Deuflhard, die Intendantin von Kampnagel, bekräftigte gleich zur Begrüßung, wie wichtig Kunstfreiheit für unsere Demokratie sei. „Kunst ermöglicht stets eine kritische Betrachtung gesellschaftlicher und politischer Debatten“, betonte sie.
Welche Möglichkeiten Kunst für diese kritische Auseinandersetzung bietet, wurde in der Künstlermatinee „Europa: Künstlerische Strategien für politisches Engagement“, unter anderem mit der Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo, erörtert. Dort zeigte sich, wie sehr populistische Kräfte bereits jetzt an wichtigen Eckpfeilern der Demokratie rütteln. Kunst werde von politischen Instanzen unter Druck gesetzt und zunehmend in Frage gestellt. Populistische und anti-pluralistische Parteien verstärkten diesen Trend zusätzlich, waren sich die anwesenden Künstlerinnen und Künstler einig. Ihre Botschaft: Die Stärke der Kunst besteht in der Freiheit, Probleme unmittelbarer zu adressieren, als die Politik dies tun kann. Deshalb müsse man Kunstfreiheit mit aller Macht verteidigen.
Dass dies auch für die Demokratie zutrifft, wurde in den vergangenen Jahren immer klarer. Die Vorstellung, dass Demokratie in Europa unumstößlich ist, bröckelt. Ursachen sind nicht nur die gesellschaftliche Spaltung durch populistische und demokratiefeindliche Strömungen, sondern auch „hausgemachte“ Probleme, etwa intransparente politische Entscheidungsprozesse.
Das Eröffnungspanel widmete sich daher genau dieser Frage: Wie kann Europapolitik verständlicher und transparenter werden? Für die Diskutierenden, darunter der Aktivist Michael Fritz (Viva con Agua de Sankt Pauli e.V.) und die Gründerin des European Democracy Labs, Ulrike Guérot, stand fest: Wahlen allein machen keine Demokratie. Vielmehr müssten eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet werden, um europäische Politik wieder gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern zu gestalten.
Leidenschaftlich wie immer, plädierte Michel Friedmann für mehr Streitkultur. Foto: David Ausserhofer
Wie aber mit Menschen umgehen, die die EU bereits ablehnen? Diese Frage behandelte ein Panel zu Populismus in Europa, in dem unter anderem der Publizist und Moderator Michel Friedmann zu Gast war. Um eine funktionierende EU aufzubauen, müsse Politik wieder vermehrt Inhalte anbieten statt sich auf gefühlsbasierte Diskussionen einzulassen. „Menschen emotional zu überzeugen ist zwar einfacher, aber Politik kann und muss auch mit Argumenten dagegenhalten.“ Und genau diese dürften seiner Meinung nach leidenschaftlicher diskutiert werden. Friedmann plädierte für mehr Streitkultur: „Seien wir nicht mehr so gepflegt!“
Diesen Aufruf zur verbalen Auseinandersetzung griffen Sven Giegold, Spitzenkandidat von Bündnis 90/Die Grünen und Yanis Varoufakis, Spitzenkandidat der Bewegung Demokratie in Europa 2025, mit dem Europa-Battle auf und lieferten sich über mehrere Stunden einen intensiven Schlagabtausch. Es sei an der Zeit, Konflikte zu überwinden statt immer wieder neue aufzuwerfen und auszutragen, so die EU-Politiker. Beide zeigten sich geeint in ihren demokratischen Ansichten und der Befürwortung eines vereinten und freien Europas. Auf Fragen von Moderatorin Melanie Stein skizzierten sie ihre Ideen für eine EU der Zukunft, kompakt in jeweils 90 Sekunden. Anschließend stellten sie sich den Fragen aus der Jury um Ulrike Guérot vom European Democracy Lab, der Journalistin und Netz-Aktivistin Kübra Gümüşay und Daniel Hegedüs vom German Marshall Fund of the United States. Das Publikum kürte am Ende per Smartphone-Abstimmung Yanis Varoufakis als knappen Gewinner des Europa-Battles.
Dass die Bedrohung der Demokratie kein rein europäisches Problem ist, daran erinnerte der Harvard-Professor Lawrence Lessig in seiner exzellenten Keynote am Samstagabend. Vorgestellt von Sascha Suhrke, dem Programmleiter „Politik und Gesellschaft“ der ZEIT-Stiftung, schilderte er grundlegende Probleme am Aufbau der US-amerikanischen Demokratie und legte dar, weshalb die Regierung der USA nur noch einen winzigen Teil der Bevölkerung repräsentiert. “Lernt aus unseren Fehlern“, warnte Lessig im Hinblick auf die aktuelle Situation in der EU.
Bei aller Sorge um die Demokratie – das zweite EuropaCamp eröffnete dennoch einen optimistischen Blick auf die Zukunft. Die Besucherinnen und Besucher konnten sich überzeugen, dass es sich lohnt, für Demokratie und den Erhalt europäischer Werte zu kämpfen. Genau da wird das EuropaCamp im Jahr 2020 anknüpfen. See you next year!
Auf Twitter und Youtube hält die ZEIT-Stiftung alle Interessierten auf dem Laufenden.
Das Programm ist hier zu finden.
ARD Europamagazin
Deutschlandfunk Kultur
Deutsche Welle
Blog Buddenbohm & Söhne
Blog europa.blog
Blog der Republik